Als die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy vor gut vier Wochen aus dem „Internationalen Expertenteam“ austrat, das die Gründungsintendanz des Humboldt Forums berät, forderte sie vor allem eines: mehr Provenienzforschung, also mehr Forschung zur Herkunft und zum Erwerb der Objekte, die im Humboldt Forum ausgestellt werden sollen, vor allem wenn sie aus kolonialen, gewaltförmigen Kontexten stammen.

Die FAZ schlug daraufhin vor, eine „Provenienzstelle“ am HUF einzurichten. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz erklärte in einer Stellungnahme, alle Exponate des HUF seien bereits „einer ersten Prüfung der Provenienz unterzogen worden“. Dennoch legte Präsident Hermann Parzinger im Interview nach: „Wir brauchen dringend eine Stelle, die uns bei der Finanzierung solcher Provenienzforschungsprojekte unterstützen kann“. Und auch dieser Wunsch ist in den letzten Monaten immer wieder geäußert worden: Die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste möge ihr Portfolio – und damit ihre Förderung – auf koloniale Provenienzen ausweiten.

Es liegen also genügend Vorschläge auf dem Tisch, die sich aufgreifen ließen, um Provenienzforschung im Humboldt Forum wie an deutschen ethnologischen Sammlungen insgesamt langfristig zu verankern. Doch wer die Debatte verfolgt, kommt nicht umhin sich zu fragen: Welche Art von Provenienzforschung ist hier eigentlich gemeint? Wieviel davon braucht es – und wieviel davon ist schon geleistet worden, etwa in Berlin, Bremen oder Stuttgart, wo es ja schon seit einiger Zeit Drittmittelprojekte in dem Bereich gibt? Und schließlich: Mit welchem Ziel soll Provenienzforschung letztendlich betrieben werden?

Zunächst zur ersten Frage: Bénédicte Savoy hat – sicher bewusst überspitzend – argumentiert: „Für mich ist es weniger wichtig zu wissen, welche Funktion ein Gegenstand in Namibia hatte, als zu erfahren, unter welchen Umständen er hierher gekommen ist“. Das ist erstaunlich, denn was, wenn die Umstände des Erwerbs nur zu rekonstruieren sind, wenn man die „Funktion“ und Bedeutung des Objektes und damit auch den persönlichen, kulturellen oder auch politischen Wert erkennt, der ihm von den Herstellern, Nutzern und „Erwerbern“ vor, sagen wir, 100 Jahren zugeschrieben wurde?

Geht es also wirklich vor allem um Raubgut, wie es auch der Historiker Jürgen Zimmerer mit dem Hinweis auf den „vermuteten unrechtmässigen Erwerb aller Objekte“ immer wieder nahelegt? Zunächst einmal besteht, was geraubte und entwendete Objekte angeht, in der Tat ein immenser Forschungsbedarf. Erst vor wenigen Jahren wurde im Depot des Berliner Ethnologischen Museums Kriegsbeute aus dem Maji-Maji-Krieg (1905-1907) im damaligen Deutsch-Ost-Afrika (heute Tansania) „wiedergefunden“ – also gute 100 Jahre nach ihrer Einlagerung. Solche Funde dürfen in Zukunft kein Zufallsprodukt oder Resultat des Engagements einzelner KustodInnen bleiben.

Dort, wo Kolonialkriege und koloniale sogenannte „Strafexpeditionen“ stattgefunden haben, wurden fast immer auch Haushalte, Paläste, Tempel, Schreine und Heiligtümer etc. geplündert. Eine systematischere Provenienzforschung könnte mit solchen gewaltförmigen Kontexten beginnen, zumal in den ehemaligen deutschen Kolonien, die für deutsche Institutionen auf jeden Fall Priorität haben sollten. Darüberhinaus wurden Objekte im Rahmen kolonialer Machtasymmetrien auch von Einzelpersonen abgepresst, gestohlen, zu billig ertauscht und erkauft. Forschungen und Publikationen zum deutschen Kolonialismus, auch zum kolonialen Alltag, die vieles davon erhellen können, liegen vor, sie müssen nur endlich systematischer in Beziehung zu den Sammlungen gesetzt werden. Natürlich wirft das auch die Frage nach recht- oder unrechtmäßigem Besitz und Eigentum auf und wird in einigen Fällen zu Rückgaben führen, wenn diese dann auch gewünscht oder sogar gefordert sind.

Allerdings: Wer Provenienzforschung allein von der Raubkunst-Debatte her denkt, bekommt ethnologische Sammlungen weder in ihrer historischen noch in ihrer aktuellen Vielschichtigkeit in den Blick. Zunächst einmal beherbergen ethnologische Museen auch neuere Sammlungen – nicht zuletzt solche, die EthnologInnen seit den 1970er Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und in Zusammenarbeit mit ExpertInnen der Herkunftsgesellschaften zusammengestellt haben; EthnlogInnen, die sich im Zuge der so genannten Writing-Culture-Debatte kritisch mit Formen und Modi der Repräsentation befasst, postkoloniale Theorie rezipiert, die wechselseitige Konstruktion von „Eigenem und Anderem“ herausgearbeitet und sich kritisch mit globalen Verflechtungen auseinandergesetzt haben.

Zweitens bedeuten auch koloniale Erwerbszusammenhänge nicht immer gleich, dass es sich um Raubgut handelt. Nehmen wir ein Beispiel aus dem afrikanischen Kontext: Zahlreiche Objekte in den Sammlungen zeugen davon, dass sich afrikanische Künstler, Kunsthandwerker und Händler die europäische Nachfrage nach „exotischen“ Gegenständen um 1900 zunutze gemacht und explizit für den dadurch entstehenden Markt produziert haben. Afrikanische Akteure partizipierten damit zum Teil sehr aktiv am sich herausbildenden Welthandel. Genauso gab es Tausch oder Geschenke zwischen Eliten, es gab Überlassungen, wenn Gegenstände nicht mehr gebraucht wurden und viele Dimensionen mehr. Auch wenn dies alles unter kolonialen Bedingungen stattfand und daher jede diesbezügliche europäische Quelle mit kritischen Blick zu lesen ist: Schon Nicholas Thomas hat mit seinem Buch über „verflochtene Objekte“ im und aus dem Pazifik 1988 gezeigt, dass wir den Blick für die Handlungsspielräume lokaler Akteure schärfen müssen und sie nicht allein zu „Beraubten“ machen dürfen. Gerade dies ist von Anfang an auch ein Anliegen postkolonialer Studien gewesen.

Um solcherart komplexen Dynamiken zu erforschen, reicht es aber nicht, mit kolonial- oder kunsthistorischen Methoden an die Sammlungen heranzugehen. Hier sind vielmehr das Fach Ethnologie und im oben angeführten Beispiel die afrikanische (Kunst-)Geschichte mit ihren einschlägigen Methoden gefragt: mit ihrem Blick für innerafrikanische Verflechtungen, ihrem Zugang zu mündlichen Überlieferungen und ihrem Interesse an der Komplexität und Historizität von Geschichts- und ästhetischen Diskursen vor Ort.

Damit ist auch ein grundsätzliches Problem konventioneller Provenienzforschung benannt: Provenienzforschung als ein Nacherzählen der Stationen des Erwerbs und der Aneignung der Dinge durch Europäer greift zu kurz und ist eurozentrisch – und das nicht nur, weil sie die Bedeutung eines Dings wie auch die Orte, Zeiten und Distanzen, die in seiner Provenienzgeschichte eine Rolle spielen, zunächst einmal nach europäischen Maßstäben bemisst. Darüberhinaus sind viele Dinge, noch bevor sie in die Hände von Europäern gelangten, schon vor Ort verkauft, getauscht, geschenkt, bisweilen sogar geraubt gewesen. Haben wir nicht aus der Forschung zur Geschichte der Sklaverei und ihrer Abschaffung gelernt, wie komplex sich das Interessensgeflecht verschiedener AkteurInnen auf und zwischen den Kontinenten darstellen kann?

Genau hier hakt ethnologisch informierte Provenienzforschung theoretisch und methodologisch ein: Sie kann aktuelle und historische Konzepte vom Recht an einem Ding oder auf ein Ding entfalten, die sich mit seiner Herstellung und seinem Gebrauch einst verbunden haben oder heute noch verbinden. Letztere lassen sich manchmal nicht in Begriffen wie Eigentum fassen und vor allem nicht in Kategorien von „individuellem“ vs. „gemeinschaftlichem“ Eigentum einteilen. Ethnologisch informierte Provenienzforschung kann die Bedeutung der Objekte und ihres Transfers auf Seiten der verschiedenen AkteurInnen und die Geschichte der Ansprüche, die auf Objekte erhoben werden, beleuchten. Im Zuge des „ontologischen Turns“ der letzten Jahre fragt die Ethnologie auch verstärkt danach, ob ein Ding tatsächlich immer nur ein Ding ist und von allen für ein solches gehalten wird, oder ob es nicht auch andere Möglichkeiten gibt, die Verbindungen zwischen Dingen und Menschen zu deuten: Was ist zum Beispiel mit beseelten Dingen? Was ist mit den Beziehungen, die Menschen gezielt durch den Tausch und die Weitergabe von Dingen stiften? Welche Verantwortung tragen uns also beispielsweise Geschenke aus der Kolonialzeit auf?

All diese Aspekte beleuchtet eine ethnologische Provenienzforschung – vor dem Hintergrund einer Wissenschaft (der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie), die international seit Jahrzehnten, etwa im Rahmen der Material Culture Studies, eine kritische historische Bearbeitung von Sammlungen vorantreibt. Entsprechend diskutierten auf einer Tagung mit dem Titel „Provenienzforschung in ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit“ im April dieses Jahres EthnologInnen und HistorikerInnen aus Deutschland mit internationalen Gästen und KollegInnen aus der NS-Provenienzforschung über verschiedene diesbezügliche Ansätze, Methoden und Strategien. Neben dem Desiderat einer langfristigen Systematisierung und Institutionalisierung wurden dabei zwei Dinge klar: Erstens, Provenienzforschung in diesem Bereich muss von Anfang an bundesweit vernetzt angegangen werden, weil koloniale Erwerbungen aus ein- und demselben Kontext in der Regel gleich in mehreren Museen in Deutschland zu finden sind. Gründe hierfür liegen einerseits im enzyklopädischen Ansatz der Wissenschaften jener Zeit, andererseits in der Konkurrenz der Museen untereinander. So gibt es Kriegsbeute aus dem Maji-Maji-Krieg an mehreren ethnologischen Sammlungen in Deutschland, genauso wie Objekte aus dem Besitz von König Njoya von Bamum in Kamerun.

Zweitens müssen besitzende Institutionen von Anfang an mit Individuen, Institutionen und Interessensgruppen der Herkunftsländer kooperieren. Es reicht nicht, „source communities“ zu beteiligen, vielmehr müssen Forschungsagenden gemeinsam ausgehandelt werden. Ein solches Vorgehen erfordert intensive Beziehungsarbeit und ein Netzwerk, das sich in der Regel nur durch langjährige Kontakte in die Herkunftsländer der Sammlungen aufbauen lässt. Es geht um ein neues Paradigma: um die gemeinsame – einvernehmliche, aber möglicherweise durchaus kontroverse – Produktion von Wissen über diese Sammlungen. Und dies nicht nur in exemplarischen Einzelprojekten, sondern in größerem Stil, auf nachhaltige Art und Weise.

Das würde eine systematischere Provenienzforschung auf von der bisher gemachten unterscheiden: eine größere Vernetzung in der Fläche, eine bessere Abrufbarkeit und Vermittlung der Ergebnisse in der Öffentlichkeit, so dass eine breitere Reflexion über die Entstehungsgeschichte der Sammlungen und Institutionen im Zusammenhang mit dem kolonialen Projekt und über ihre Rolle heute möglich wird. Eine dahingehende Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Besucher entsteht aber nicht etwa durch längere oder präzisere Objektschildchen, sie entsteht durch Ausstellungen und Vermittlungsprogramme, die explizit über die Problematik von Provenienz und über den Zusammenhang zwischen Sammlungen und Kolonialismus sprechen (wie beispielsweise die Ausstellung „Deutscher Kolonialismus“ jüngst im DHM). Solche Konzepte gilt es in den nächsten Jahren verstärkt zu entwickeln, mit einem besonderen Augenmerk auf die Frage, wie sich aus all der mühevollen Forschungsarbeit auch Ideen, Material, Visionen und Kooperationen für weitergehende zukünftibe Projekte entwickeln lassen.

Doch zurück zum Humboldt Forum: Provenienzforschung darf aus diesen Gründen nicht einfach nur die ‚Vorarbeit’ zu einem mehr oder weniger schillernden ‚Schaufenster der Wissenschaft’ in Nachbarschaft zur Museumsinsel sein – damit würde nur eine Art ‚Clearingstelle’ für den Ausstellungsbetrieb geschaffen. Gerade in der ehemaligen Kolonialmetropole Berlin kann es nicht allein um den lückenlosen Herkunftsnachweis und/oder um die Rückgabe von Raubgut gehen. Vielmehr muss ‚postkoloniale Provenienzforschung’ hier auf ein umfassendes Verständnis (post-)kolonialer Verflechtungsgeschichte und auf eine transnationale Einbettung der Sammlungen abzielen. Dafür ist ein langfristigen Bekenntnis der Kulturpolitik zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes in den ethnologischen Museen in Deutschland vonnöten. Unumgänglich ist der Auf- und Ausbau von dauerhaft angelegten Forschungsstrukturen um die betreffenden Sammlungen herum, auch unabhängig von einem zu schaffenden „Forschungscampus“. Projektstellen für eine „Humboldt Forum Kultur GmbH“, wie sie zuletzt in zweistelliger Zahl geschaffen wurden, helfen bei der Bewältigung solcher Herausforderungen nicht weiter – stattdessen muss die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Dahlem auf eine breitere konzeptionelle wie auch strukturelle (finanzielle und personelle) Basis gestellt werden.

 

 

Larissa Förster ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage und Sprecherin der AG Museum der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, die im April 2017 eine Tagung zu „Provenienzforschung in ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit“ (in Kooperation mit dem Museum Fünf Kontinente München) veranstaltete.