Was liegt auf der anderen Seite der Stille? Folgt man dem Künstler Hrair Sarkission in der gleichnamigen Ausstellung im Bonnefanten Museum in Maastricht, finden wir dort einen Raum ohne Sprache und ohne Menschen. Ganz still ist es trotzdem nicht. Es wird gehämmert; es wird auf Metall geschlagen, gekratzt und gebürstet; und es wird geatmet. Vielleicht hören wir aber auch weniger diesen Raum jenseits der Stille, als die Kraftanstrengungen des Künstlers, sich auf diese andere Seite durchzuschlagen, durchzugraben.
Hrair Sarkissian ist bekannt für großformatige und serienförmige Fotografien, die mit dem Motiv der Abwesenheit spielen und somit auf der Imagination der Betrachter*innen bauen. Ob in Form verschneiter Landschaften in Armenien, bühnenhafter Hintergrundinstallationen in aus der Zeit gefallenen Fotostudios im Mittleren Osten oder auffällig ruhiger Plätze und Verkehrsknotenpunkte in den städtischen Zentren Syriens – als Betrachter*innen kommen wir nicht umhin, die Leerstellen mit unser Phantasie, unseren Erfahrungen und Projektionen zu füllen.
Gelegentlich geben die Titel Aufschluss, so wie in letztgenannter Serie: Execution Squares. 1973 in Damaskus geboren, wurde Hrair Sarkissian als Kind ungewollt Zeuge der staatlichen Erhängungen auf dem morgendlichen Weg zur Schule. Jahre später kehrte er mit der Kamera an diese öffentlichen Plätze zurück und fotografierte sie zu jener Tageszeit, an denen die Exekutionen in der Regel stattfinden. Die Bilder zeigen Orte städtischen Treibens, Häuser, Palmen, jedoch keinen Verkehr und keine Menschen. Im Zentrum die Geister der Erhängten, in ihrer Abwesenheit nun verspätet festgehalten vom Künstler.
Vielleicht besteht Sarkissians Kraftanstrengung, der wir mal still, mal geräuschvoll beiwohnen, aus genau dieser Arbeit: der späten Umkehr der Erfahrung der kindlichen Zeugenschaft in einen Akt der Selbstermächtigung. Die Fotographie ist dabei sein Mittel. Sowohl sein Weg dorthin als auch Bedeutung dieser Ermächtigung reichen jedoch über Sarkissians eigene Biografie hinaus. Über die Geschichte seiner Familie hinaus ist es auch eine Arbeit an der Gewaltgeschichte der Region.
Am nächsten erfahrbar werden diese Verbindungen durch eine seiner jüngsten Arbeiten, Sweet and Sour, von 2022. Sarkissian lernte das fotografische Handwerk von seinem Vater, der in den 1970er Jahren das erste Farbfotostudio Syriens eröffnete. Der Vater selbst war Sohn von Überlebenden des armenischen Völkermords. Die Familie stammt ursprünglich aus einem heute vorwiegend kurdisch besiedelten Teil der Osttürkei. Auf drei unterschiedlichen Filmaufnahmen zeigt Sarkissian uns nun den Vater, wie er, bewegt und um Fassung ringend, Bilder des Dorfes seiner Vorfahren in der Türkei sieht, aufgenommen von seinem Sohn, der in einer dritten Sequenz über die Landschaft der verlorenen Heimat schaut. Was wir hören: das schwere Atmen des Vaters.
Woran Sarkissian mit diesem Werk arbeitet ist eine Umkehr der Ökonomie genozidaler Zerstörung mittels der Kunst. An die Stelle der Vertreibung und des Verlusts tritt ein Geschenk an den Vater, dessen Trauer Sarkissian durch genau jenes Handwerk ermöglicht, das ihm sein Vater selbst vermittelt hat.
Was sind die Grenzen und Möglichkeiten des Trauerns in der Folge von katastrophalen Erfahrungen? Angesichts der Tatsache, dass auch viele Wochen nach den schweren Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion immer noch Angehörige nach den toten Körpern ihrer Freunde und Verwandten suchen, d.h. noch nicht einmal mit dem Trauern beginnen können, hat diese Frage nichts an Aktualität eingebüßt. Sie begleitet uns aber schon länger. Im Armenischen bezeichnet das Wort ‚Aghet’ die Katastrophe, den Völkermord von 1915, der viele Fragen, die später vor allem mit der Shoah ins Zentrum rückten, vorweggriff. Wie lässt sich solch ein Ereignis fassen? Wie können wir es verstehen oder gar repräsentieren? Und wie überhaupt ließe es sich für die Überlebenden und deren Nachfahren verarbeiten?
Im Falle der Türkei, die, anders als Nazi-Deutschland, durch den auf den ersten Weltkrieg folgenden ‚Unabhängigkeitskrieg’ letztlich als Siegerin aus dieser Geschichte hervorging, ergeben sich aber noch weitere Fragen. Als Siegerin schrieb sie die Geschichte und laut ihrer Geschichtsschreibung hat es den Völkermord als solchen nie gegeben. Um auch die Wirklichkeit mit dieser Erzählung in Einklang zu bringen, wurden Archive zerstört oder kamen unter Verschluss; armenische Ortsnamen verschwanden von Karten und Schildern; Häuser, Kirchen und andere Gebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht oder zur Unkenntlichkeit umgewandelt; und Überlebende wurden in die Migration getrieben oder zwangsassimiliert.
Die institutionalisierte Leugnung hat Auswirkungen auf die Zeugenschaft und offenbart den genozidalen Willen als epistemische Gewalt. Er ist nicht nur ein Wille zum Töten, er ist auch ein Angriff auf das Wissen, das Bezeugen und die Möglichkeiten des Betrauerns. Der armenische Philosoph und Literaturwissenschaftler Marc Nichanian spricht im Fall von Aghet daher von einem Trauerverbot, einer ‚interdiction of mourning’. Einerseits entzieht sich das Ereignis unserem Verständnis. Andererseits wird Zeugenschaft dem Mandat der rechtlichen oder historiografischen Beweisführung unterworfen, solange immer noch um Anerkennung gekämpft werden muss.
Während die Wissenschaft nicht viel mehr tun kann, als all dies zu ergründen, kann sich die Kunst gegen das Verbot der Trauer stemmen und Räume öffnen. Diese sind, um es mit der Literaturwissenschaftlerin Aurélia Kalisky zu sagen, undiszipliniert. Im Werk Hrair Sarkissians zeigt sich dies an der unbestimmten Grenzziehung zwischen Dokumentation und Inszenierung. Teils mittels der Fotografie, die immer auch ein zweites Leben als forensische Technik führt, teils mittels bildhauerischer Rekonstruktionen schafft Sarkissian neue Dokumente, stellt alte wieder her und baut Archive. Die Exekutionsplätze, wiederum, begegnen uns gleichzeitig als vom Künstler gestellte Bühnen, auf denen uns die spektakulären Inszenierungen diktatorischer Gewalt durch das nähergebracht werden, was bleibt, nämlich die Häuser und ihre Bewohner*innen, die Straßen und ihre Passant*innen, alltägliche Zeug*innen der Gewalt.
Überhaupt, die Zeugenschaft. Sarkissian hat im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina, in Brasilien und dem Libanon die Orte abgelichtet, an denen Menschen ihre verschwundenen Geliebten und Verwandten das letzte Mal gesehen haben. Seine Dringlichkeit mag es aus der eigenen Familiengeschichte ziehen, das Bezeugen in Sarkissians Arbeiten setzt sich jedoch über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg. Auch indem es unsere Mitarbeit einfordert, uns auf unsere eigenen Erfahrungen und unser Wissen zurückwirft, wird es ganz grundlegend geteilt und relational. Kunst als eine Form der Rechenschaft.
Alice von Bieberstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am CARMAH und am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Eine Version des Artikels erschien am 14.03.2023 in der tageszeitung (taz) unter dem Titel ‘Trauer ermöglichen: Erinnerungsarbeit mit Fotografie‘.